Vom Berühren und Berührtwerden

Wer hat noch nicht Geschichten gehört über die Heilkräften, die von Berührungen ausgehen?

Vielleicht jene von dem Baby, welches im Brutkasten einen Arm um seine sterbende Zwillingsschwester legte und durch diese Zuwendung ihren Zustand wie durch Zauberhand stabilisierte. Oder Geschichten von totgeglaubten Babys, die durch den müttlerlichen Hautkontakt wiederbelebt wurden. Und dann gibt es da noch Geschichten – gar grauenhafte Experimente – mit Babys, die aus Mangel an zwischenmenschlicher Zuwendung und Berührungen gestorben sind.

Und wer von uns hat noch nie die Wirksamkeit von Berührungen am eigenen Leib erfahren? Die ellterliche lindernde Hand auf unserer Stirn, wenn wir Kopfschmerzen hatten, oder die innigen Umarmungen, als Geste des Trostes, der Verbundenheit.

Und wer unter uns kennt nicht das Gefühl, Berührungen schmerzlich zu vermissen?

Sex cells

Die Sehnsucht nach Berührung führt häufig zu Verlangen und Lustkompensation. Sexualität boom auch in der Spiri-Szene. Plötzlich höre ich an jeder Ecke nur noch von „sexuellen Energien“ (als wären sie die einzig wahren) und von tantrischen Workshops (als würde es bei Tantra nur um Sex gehen). Manchmal mutet es mir marktschreierisch an, wie viele bombastische Orgasmen einem versprochen werden, und das alles mit einem spirituellem Garantiesiegel drauf.

Ich befürchte, dass einige der Angebote manche Männer erst recht auf eine besonders gute Performance trimmen und dass manche Frau meint, es gehöre dazu, sich feucht-fröhlichen spirituellen Ritualen hinzugeben. Ich meine, die Nachfrage nach Sexualtherapeuten u.ä. zeigt einen positiven Wandel, was einstige Tabuthemen angeht, und dass Menschen aktiv werden und sexuelle Traumata auflösen wollen. Aber…warum nur diese Verwechslung zwischen Berührung und Verführung?

Zwischen sexueller Sensationslust und intimer, wahrhaftiger Zuwendung?

 

Der Körper will kommunizieren, berührt werden und Dinge aus der Außenwelt aufnehmen. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse besagen, dass Menschen beim Geschlechtsakt DNA austauschen und dass diese sich meist Jahrzehnte, wenn nicht für immer, nicht nur als Relikt in unseren Körpern ablagert, sondern auch unsere DNA aktiv beeinflusst.

Die moderne Medizin nennt dieses Phänomen „Chimärismus“. Diese Ausprägung auf einer zellulären Ebene zeigt uns ein weiteres Mal, dass der Körper nach Vereinigung strebt, aber auch, dass wir darauf aufpassen sollten, mit wem wir uns sexuell austauschen bzw. aus welchem Grund.

Eine heikle Gradwanderung zwischen Trennung und Einheit kann es auch werden, wenn es zu einer Spaltung zwischen dem, was so fundamental erfahren werden möchte – wahre Berührung, Zuwendung und Intimität – und unserem zwischenmenschlichen Verhalten und Empfinden kommt.

Hautnah

Mit ihren 5 Millionen Sinneszellen ummantelt uns die Haut und stellt die letzte Barriere zwischen unserer Innenwelt zur Außenwelt dar. Wird diese Grenze verletzt, etwa durch ungewollte Isolation, Liebesentzug, durch Handgreiflichkeiten oder anderen Missbrauch, kann man sich die dramatischen Folgen für das Sozial- und Intimverhalten der betroffenen Person vorstellen.

Manchmal zeigt sich die Diskrepanz zwischen dem Innen und dem Außen auch körperlich: Aus meiner kinesiologischen Arbeit kenne ich das Phänomen, dass Akne, Herpes und andere Hautkrankheiten eine verzweifelte Schutzreaktion des Körpers sein können, Abstand zu gewinnen, sich einen Panzer oder gar abwehrende Stacheln wachsen zu lassen.

Denn alles Erlebte, was durch unsere Hautmembran wie auch durch unsere Sinne in uns eindringt, wird sorgsam in unseren Körperzellen gespeichert, und was in alten Lehren schon entscheidender Bestandteil war, weiß nun auch die moderne Wissenschaft zu beweisen:

Erinnerungen sitzen tiefer als einst geglaubt. Alle emotional oder körperlich erlebten Erfahrungen stehen im Körpergedächtnis geschrieben und schlagen sich nieder in unseren Muskeln, Knochen, Organen und im Bindegewebe.

Ihre Auswirkungen auf unser Verhalten und Fühlen erfolgt entweder bewusst oder unbewusst. Diese Erinnerungen sind nicht ohne Weiteres abrufbar, da sie von Schutzmechanismen überdeckt und tief vergraben wurden.

Wenn wir mit unserem Inneren nicht verbunden sind, entbehren wir unserer Vollständigkeit und bleiben in unweigerlichen Mechanismen gefangen. Damit der Körper nicht zur Gefängniszelle wird, müssen wir den Abstieg in den Abgrund der Erinnerungen wagen.

Das muss der Moment in alten Mythen sein, in dem sich die Chimäre in den Abgrund wirft.

Mit Kinesiologie den Blick nach innen wagen

Die Berührung mit der Außenwelt kann zur Qual werden, wenn wir nicht damit in Berührung kommen, wer wir selber sind. Die eigenen Gefühle nicht fühlen zu wollen, bedeutet, mehr oder weniger tiefe Spaltungen von sich selber zu erleiden.

Diesen Scherbenhaufen von Abspaltungen zu einem Ganzen zusammenzufügen und den Klienten bei seiner Ichwerdung zu begleiten, ist ein übergeordnetes Ziel meiner Arbeit. In der Sitzung wende ich mich vor allem an die unbewussten Teile des Denkens und an das Körpergedächtnis. Um Erinnerungen wiederaufzudecken, die verschüttet lagen, ist es zunächst ratsam, die natürliche Körperintelligenz des Gegenübers zu befragen, und dann das, was in den Zellen geschrieben steht, umzuschreiben.

Die Außenwelt berühren

Um unsere eigene (Liebes-) Geschichte schreiben zu können, bedarf es eines sorgsamen Umgangs mit unseren eigenen Bedürfnissen. Auch im Chimärismus wird die Eigenschaft des Universums, Leere zu füllen, deutlich. Sind wir nicht „ganz“ bei uns, ziehen wir schnell Dinge und Beziehungen an, die eher an uns ziehen und zerren und uns verformen, als dass sie seelentiefe Berührungen möglich machen. Legen wir unser Hauptaugenmerk auf Sexualität und Ekstase (=aus sich heraustreten), ist es wahrhaft schwierig, bei sich zu bleiben und nicht in Selbstvergessenheit zu versinken. Sich und seinen Körper im Er-innern wieder spüren zu dürfen, befreit von sexuellen Problemen, Dysfunktionen und Abhängigkeiten.

Diese tiefe Selbsterfahrung ist der Schlüssel zu wahrer Nähe und Verbundenheit. Nur wer Einfühlungsvermögen sich selber gegenüber kultiviert, kann (sexuell) selbstbestimmt und authentisch im Außen handeln. Eine heilsame Sexualität fängt somit bei uns selbst an.

 

Lasst uns also den Sprung in unsere Abgründe wagen und die Schätze, die wir dort finden, in die Außenwelt tragen – sie berühren.

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